Meine Corona-Zeit: Die Kunst des Nichtstuns

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Über zwei Monate ist es schon her, seitdem in Deutschland die Corona-Beschränkungen unser aller Leben auf den Kopf gestellt haben. Trotz der immer weiteren Lockerungen ist die Krise in der Gesellschaft noch zu spüren. Masken, Abstandsregeln, Kontaktbeschränkungen und Desinfektionsmittel bestimmen unser aktuelles Leben. Für die einen gehen die Lockerungen nicht weit genug, für die anderen sind sie ein zu großes Risiko für eine zweite Welle.

„Wir sitzen doch alle im selben Boot“, höre und lese ich oft. Aber tun wir das wirklich? Ich bezweifel das doch sehr. Ich habe Freunde, die seit der Schließung des öffentlichen Lebens weiterhin normal zur Arbeit gehen konnten. Dann wiederum auch Freunde, die ins Home Office oder auch in Kurzarbeit geschickt wurden. Ich habe Freunde, die plötzlich ihre Kinder von Zuhause aus unterrichten mussten, und auch Freunde, die wegen Kleinkindern und geschlossenen Kitas ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten. Meine selbstständigen Freunde mussten wie ich die Corona-Soforthilfe beantragen, andere sogar die Grundsicherung über das Arbeitslosengeld II. Andere wiederum bekommen weder das Eine noch das Andere. Ich habe Freunde, die so gut verdienen, dass ihnen ein verkürztes Gehalt nicht wehtut, und Freunde, die um ihre private Existenz bangen. Einige meiner Freunde wohnen in großen Häusern mit Garten, ein paar von ihnen in schönen Eigentumswohnungen und die meisten jedoch eingeengt in kleinen Mietwohnungen der Stadt.

Wir sitzen eben nicht alle im selben Boot! Und das wollen viele einfach nicht verstehen. All diese Ratschläge, Tipps zum Zeitvertreib, Hashtag-Challenges – all das bekommen wir um die Ohren geworfen, ohne dass man versteht, wie es uns persönlich tatsächlich physisch und psychisch geht. Wir sitzen nicht im selben Boot! Wir stecken in dem selben Sturm. Aber jeder von uns sitzt dabei in seinem eigenen Boot.


Meine persönliche Corona-Zeit…

Okay, die Einleitung zum eigentlichen Thema ist ziemlich lang geworden. Tut mir leid! Meine Lehrer hätten wie immer gesagt: „Komm schneller zum Punkt“. Mir war es aber wichtig, dass ihr meinen Beitrag NICHT als Fingerzeig versteht, wie mit der Corona-Situation am besten umzugehen ist. Mir ist bewusst, dass meine Lage von vielen Faktoren abhängig ist, und mich daher von meinen Mitmenschen unterscheidet. Jeder geht mit der aktuellen Situation anders um.

Meine persönliche Corona-Zeit ist bislang geprägt von Arbeitsfrei und Zuhause-Sein. Seit zwei Monaten sitze ich Daheim und es wird wahrscheinlich noch etwas dauern, ehe ich wieder in den Einsatz gehen darf. Nach heutigem Stand erst wieder ab Juli. Da ich aber im Schnitt nur drei Tage die Woche arbeite, macht sich das natürlich nur bedingt in meinem Wochenrhythmus bemerkbar.

An den Tagen, an denen ich nicht arbeite, beschäftige ich mich normalerweise mit den Hilfsprojekten meines hamromaya Nepal e.V., mit meinem Nepal-Blog, mit neuen Geschäftsideen, oder ich bin viel unterwegs. Öfters kommen natürlich auch Bestellungen aus meinem Nepal-Onlineshop rein, die ich dann bearbeite und versende. Wie ihr seht, „arbeite“ ich auch, wenn ich nicht arbeite. Wobei es sich für mich eher wie eine schöne Freizeitbeschäftigung anfühlt.

Mit Corona hat sich natürlich alles geändert. Alle unsere Hilfsprojekte mussten wegen der kompletten Ausgangssperre in Nepal stillgelegt werden. Meine Händler mussten ihre Geschäfte schließen und das Cargo-Unternehmen darf keine Ware mehr liefern. Wie bereits vermutet, hatte ich im Mai einen derben Verkaufseinbruch. Wie sollen Kunden auch bestellen können, wenn keine Ware da ist… Dieser Zustand wird so lange andauern, bis Nepal endlich wieder das öffentliche Leben hochfährt.

Von heute auf morgen hatte ich Ende März also keine Arbeit mehr. Und seit Mai auch viel weniger Bestellungen in meinem Shop. Ich hatte also plötzlich absolut nichts mehr zu tun – zumindest weder beruflich noch projektspezifisch…


Physisch und Psychisch geht es mir sehr gut!

Ich fühle mich körperlich und mental – trotz der anhaltenden Situation – äußerst gut. Mir haben die vergangenen Beschränkungen nichts ausgemacht. Und auch aktuell bin ich von ihnen nicht genervt, obwohl ich bei manchen Regelungen nicht verstehe, wofür sie gut sein sollen. Ich habe kein Problem damit, mit Maske in der Bahn zu sitzen oder einkaufen zu gehen. Mir macht es auch nichts aus, wenn Fahrgäste sich nicht zu mir setzen möchten, weil sie einen Asiaten sehen. Oder wenn Menschen plötzlich einen größeren Bogen um mich schlagen als um andere. Fühle ich mich beleidigt oder gekränkt deswegen? Nein, mein Ego bestimmt nicht mein Dasein.

Mit den Kontaktbeschränkungen bin ich natürlich nur ganz selten in Gesellschaft gewesen. Aber auch das hat mir nichts ausgemacht. Ich kann gut alleine sein. Für einige meiner Mitmenschen sogar beängstigend gut. Für mich ist die Einsamkeit nichts Erdrückendes. Eigentlich ist es doch so, dass wir zumeist Angst vor der Ruhe haben, weil wir nur mit der Ruhe in unser Innerstes horchen können. Vielen macht die Erkenntnis über das eigene Leben mehr Angst als alles andere.

Natürlich hängt meine aktuelle Gelassenheit auch damit zusammen, dass ich (vorerst) nicht um meine Existenz bangen musste. Ich brauche zwar nicht viel zum Leben, aber sehr viel länger darf meine arbeitsfreie Zeit nicht mehr andauern… Sonst… Nein, ich weiß nicht, was sonst sein wird. Warum sich schon vorab Sorgen machen? „Wir machen uns erst Sorgen, wenn wir uns Sorgen machen müssen“, pflege ich oft zu sagen. „Und wenn die Zeit mal gekommen ist, um sich Sorgen zu machen, dann vertrau mir einfach“, das beruhigt nicht nur meine Mitreisenden, sondern aktuell auch mich selbst.


Nichtstun heißt nicht nichts tun

Wenn man mich fragt, was ich seit Mitte März gemacht habe, fällt mir „nur“ mein Umzug nach Marburg ein. Aber auch das ging relativ schnell vonstatten. Darüber hinaus? Keine Ahnung. Ich wüsste nicht, was ich noch sinnvolles mit der vielen Zeit gemacht habe. Je länger ich weiter darüber nachdachte, desto weniger fiel mir ein. Die Monate sind verstrichen, ohne dass ich irgendetwas produktives geleistet hatte.

Und dann kam mir plötzlich der Geistesblitz! In unserer Gesellschaftsstruktur, in der Schnelllebigkeit das Ziel und Produktivität das höchste Gut ist, verbinden wir automatisch „etwas sinnvolles tun“ mit „produktiv sein“. Es ist uns wichtiger mit der Zeit etwas zu leisten, anstatt die Zeit für uns zu nutzen. Denn nur wenn wir produktiv sind, seien wir ein Mehrwert für die Gesellschaft. Das bekommen wir leider schon von klein auf mit auf dem Weg gebracht.

Wenn ich mich allerdings von dem Gedanken verabschiede, dass „etwas sinnvolles tun“ gleichbedeutend ist mit „produktiv sein“, so erkenne ich auf Anhieb, wie viel ich tatsächlich in der Zeit gemacht habe. Kochen, Lesen, Sport, Entspannen, Filme schauen, Hausarbeit, um nur ganz wenige Aktivitäten zu benennen.

Das bedeutsamste jedoch, was ich während der freien Zeit gemacht habe, ist nichts! Nichtstun ist auch etwas tun – und das ist sogar schwieriger als alles andere. Einfach da zu sitzen und die Gedanken herumschwirren zu lassen, bis sie von alleine – ganz natürlich – zur Ruhe kommen. Und da ich grundsätzlich nicht viel von Produktivität und Leistungsgesellschaft halte, sehe ich „Nichtstun“ nicht als mentale Belastung. Ganz im Gegenteil. Das „Nichtstun“ (oder zumindest das theoretische Konzept) ist auch unabdingbar mit dem wahren Glück verknüpft.

Dazu aber einen anderen Mal mehr 🙂


Buch-Empfehlung

Für diejenigen unter euch, die nicht auf meinen nächsten Eintrag über das Glück warten möchten, denen kann ich das Buch „Glück“ von Matthieu Ricard wärmstens ans Herz legen. „Matthieu Ricard arbeitete als Forscher auf dem Gebiet der Molekularbiologie, ehe er seine Berufung zum Buddhismus erkannte. Seit 25 Jahren lebt er als buddhistischer Mönch in den tibetischen Klöstern des Himalaya. Er übersetzt Werke aus dem Tibetischen und ist der offizielle Französischübersetzer des Dalai Lama.“ (Quelle: Produktinformation bei Amazon).

»Glück ist kein Zufall, sondern jeder kann es erlernen«, meint Matthieu Ricard. Es entsteht, wissenschaftlich messbar, aus einem inneren Gleichgewicht von Körper und Geist. Es ist das Resultat eines Reifungsprozesses, der ganz allein von jedem Menschen selbst abhängt. Dazu gehört auch, sich von der Macht negativer Emotionen wie Hass, Neid, Verlangen und Ich-Bezogenheit zu befreien und sich stattdessen von Mitgefühl, Demut und Güte leiten zu lassen, um im Einklang mit sich und der Welt zu leben. Dieser innere Zustand, der nicht von äußeren Umständen abhängig ist, ist der Schlüssel zu lebenslangem, tief empfundenem Glück.

Kleine Übungen und Meditationsanleitungen am Ende eines jeden Kapitels weisen einen klaren Weg zu einem glücklicheren Leben.

aus der Beschreibung bei Amazon

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Namasté! Schön, dass Du meinen Nepal Blog gefunden hast. Ich heiße Khai-Thai, ich bin in Deutschland geboren, meine Eltern stammen aus Vietnam, Frankfurt ist meine Heimat und Nepal mein Zuhause. Seit 2011 besuche ich das wundervolle Land für mehrere Monate im Jahr und engagiere mich für unsere Hilfsprojekte vor Ort. In diesem Nepal Blog schreibe ich über meine Eindrücke, Erfahrungen, Anekdoten und Projekte - Einfach mein-Nepal eben ;)

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