Nepali Time – Gelassenheit auf Kosten anderer

Bei den Erdbeben-Wiederaufbau-Projekten geht es für unseren Verein hamromaya Nepal um viel Geld. Wo soll investiert werden? Was soll errichtet werden? Auf wem kann man sich verlassen? Seit Januar haben wir für das Dorf Ikudol – drei Stunden auf Schotterpisten von Kathmandu entfernt – den Wiederaufbau einer Schule ins Visier genommen. Wichtige strukturelle Bedingungen mussten aber noch mit dem Schulleiter geklärt werden. Als wir zum ersten Mal die anstrengende Reise ins Dorf antraten, um uns mit den Dorfbewohnern zu unterhalten, ließ der Schulleiter auf sich warten. Wir warteten und warteten. Doch der Schulleiter versetzte uns kommentarlos. Als wir vor einer Woche zum zweiten Mal die mühsame Tour nach Ikudol antraten, war ich bereits gesundheitlich angeschlagen. Doch ich wollte unbedingt mitkommen, weil der Schulleiter seine Anwesenheit versprochen hatte. Doch wir warteten und warteten. Und wieder einmal wurden wir kommentarlos versetzt. Seitdem schleppe ich eine unerträgliche Migräne mit mir herum. Vor zwei Tagen reiste der Schulleiter nach Kathmandu. Um 13.30h sollte sich getroffen werden. Ich kauerte mit heftigen Kopfschmerzen wie ein Wrack auf der Bank. Wir warteten und warteten. Unzählige Anrufe und Nachrichten blieben unbeantwortet, bis um 15.15h der Schulleiter Erbarmen mit uns hatte und uns anrief: „Ich glaub, ich schaffe es nicht mehr“.

In Nepal schlagen die Uhren anders – ganz besonders, wenn es um Termine geht. Egal, ob es sich um ein informelles Treffen unter Freunden handelt oder um das Geschäftsmeeting deines Lebens, in Nepal ist Pünktlichkeit genauso wahrscheinlich wie ein Asteroideinschlag auf dem Mount Evererst. „Nepali Time“ macht es möglich – ein Phänomen, das in das Blut der Nepalesen übergegangen ist. Ganz einfach auf dem Punkt gebracht, bedeutet „Nepali Time“ nichts weiteres als pure Unpünktlichkeit.

Aber bekanntlich ist die Welt ja nicht „ganz einfach“. Hippies, Aussteiger und enthusiastische Nepal-Reisende haben ihre eigene Interpretation der „Nepali Time“ entwickelt. Für sie ist der Begriff ein Synonym für die Gelassenheit, die sie in der nepalesischen Gesellschaft meinen zu sehen. Ein Land, in dem sich die Menschen nicht stressen lassen und schon gar nicht aus der Ruhe kommen würden. Menschen, die geduldig seien, bescheiden und herzlich, da sie scheinbar dem verspäteten Gegenüber stets verzeihen. Keiner ärgere sich, schimpfe oder schaue angespannt auf die Uhr. Mit jeder Pore würden sie Ruhe und Gelassenheit verbreiten. Denn Aufregung und Ärger bringen ihnen schlicht nichts und daher würden sie es gar nicht erst aufkommen lassen.

Ich kann mit solchen Aussagen nur schwer leben. Ich frage mich, ob diese Menschen nur bewusst das sehen wollen, was sie sehen möchten oder ob sie nicht merken, dass ihre rosarote Brille, durch die sie Nepal wahrnehmen, die Realität nicht wiedergibt. Für mich ist „Nepali Time“ weder Unpünktlichkeit noch Gelassenheit. Es ist ein viel größeres gesellschaftliches Problem, bei dem GLEICHGÜLTIGKEIT ausgestrahlt wird! Ein Großteil (junger) Nepalesen ist sich da bereits einig, während (westliche) Reisende noch immer auf die wunderbare Stressfreiheit der Nepalesen beharren. Derjenige, der zu spät kommt, zollt seinem Gegenüber keinen Respekt! Ihm ist absolut egal, wie lange sein Gegenüber wartet. Wird die rosarote Brille abgelegt, kann man hinter die Fassade schauen und es wird eine enorme Gleichgültigkeit des zuspätkommenden erkannt!

Denn hinter jedem „gelassenen“ Nepalesen, der „sich nicht stressen lässt“ und somit zu einem Termin in „Nepali Time“ erscheint (das heißt: zu spät), steckt immer eine andere Person auf der gegenüberliegenden Seite, die auf ihn wartet:

  • Hinter jedem Freund, der zu spät zu einem vereinbarten Treffpunkt an einer Kreuzung kommt, steckt ein Gegenüber, der die Abgase, den Staub und den Smog ungefiltert einatmen muss.
  • Hinter jedem Verkäufer, der zunächst seinen Facebook-Status aktualisiert, ehe er sich seinem Gegenüber widmet, steckt auf der anderen Seite ein hilfloser Kunde, der sein Geld hätte lieber woanders ausgeben wollen.
  • Hinter jedem Lehrer, der zu spät seine Klasse betritt, stecken auf der anderen Seite unruhige Schülerinnen und Schüler, die sich selbst beschäftigen müssen – junge Menschen, die von einem solchen Verhalten geprägt werden.
  • Hinter jedem Ehrengast einer Schule, der nicht pünktlich zum Veranstaltungstermin erscheint, steckt auf der anderen Seite ein ganzes Team ehrenamtlicher Helfer, das wochenlang mit den Schülern ein Begrüßungsprogramm vorbereitet hat, das nun doch keiner zu Gesicht bekommt.
  • Hinter jeder Geschäftsfrau, die zu einem Business-Meeting zu spät erscheint, steckt auf der anderen Seite ein fragender Geschäftspartner, der sich seine Investition noch einmal überlegt.
  • Hinter jedem Arzt, der zunächst mit einer Krankenschwester flirten muss, ehe er sich seinen Pflichten widmet, steckt auf der anderen Seite ein krankes Kind, das auf seine Behandlung wartet.
  • Hinter jedem Fahrgast, der meint zu spät zum Abfahrtszeitpunkt erscheinen zu müssen, steckt auf der anderen Seite ein voller Bus ungeduldiger Passagiere, die die nächsten sechs Stunden Fahrtzeit damit beschäftigt sind, dem Störenfried böse Blicke zuzuwerfen.

Was hat DAS noch mit Ruhe und Gelassenheit zu tun?! Das ist nichts weiter als Respektlosigkeit und Gleichgültigkeit! Denn derjenige, der zu spät kommt, weiß, dass er zu spät und damit auch im Unrecht ist. Er unternimmt dagegen nichts und was viel schlimmer ist, er sagt auch NICHT einmal Bescheid! Dass in Nepal sich darüber niemand beschwert, liegt in der Art der Nepalesen. Auch hier stimmt das Wort „Gelassenheit“ nicht. Diejenigen, die warten, sind extrem genervt. Sie beschweren sich nur nicht, weil sie der Konfrontation aus dem Weg gehen möchten…

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Namasté! Schön, dass Du meinen Nepal Blog gefunden hast. Ich heiße Khai-Thai, ich bin in Deutschland geboren, meine Eltern stammen aus Vietnam, Frankfurt ist meine Heimat und Nepal mein Zuhause. Seit 2011 besuche ich das wundervolle Land für mehrere Monate im Jahr und engagiere mich für unsere Hilfsprojekte vor Ort. In diesem Nepal Blog schreibe ich über meine Eindrücke, Erfahrungen, Anekdoten und Projekte - Einfach mein-Nepal eben ;)

5 Antworten

  1. basundhara

    khai ich érwische mich auch immer, meist im bus, dabei das ich die einzige bin die auf die Uhr sieht, wenns mal wieder nicht weiter geht. Nepalesen mit denen ich eine Verabredung habe nutzen gern den ach so schlimmen verkehr bei Verspätungen. dabei habe ich den gleuichen verkehr und bin dazu noch Ausländer. aber ich bin pünktlich.
    man gewöhnt sich nie daran. das kann ich dir schon mal versprechen.

    na und das mit der rosa roten brille: stimmt. einst, ist lange her, hatte ich die auch auf. jetzt verkneif ich mir in öffentlichen foren Kommentare. ich sehs halt so. Touristen kommen 3 Wochen und haben Urlaub. da sind sie schon eh anders drauf. man will nicht sehen, sondern alles genießen. naja und die übrig gebliebenen hippis – ich sag immer die OHHHHms – kommen mit Sicherheit in unserer perfekt getimten welt in dt. auch nicht klar……ke kharna Khai 😉

  2. Misty

    Hallo Khai,
    seit einiger Zeit verfolge ich Deinen Blog, weil ich wissen möchte, wie man in Nepal denkt und fühlt, was man so erlebt, abseits der Touristenströme.
    Ich bin selber auf dem Weg, mich dort sozial zu engagieren und möchte etwas vorbereitet sein.
    Das Thema Pünktlichkeit ist so eine Sache: komme ich als Reisender mit „relativ“ viel Zeit, empfinde ich das „sich Zeit lassen“ der Bevölkerung sicher als entspannt. Wenn ich dort arbeite, Termine habe, dann kann einen das schon auf die berühmte Palme bringen.
    Trotzdem denke ich, dass das nicht so verallgemeinert werden darf. Auch in Nepal wird es pünktliche und zuverlässige Menschen geben, genauso wie es bei uns „Trödler“ gibt, die immer zu spät kommen.

    Aber vielen Dank, dass Du uns an Deinen Erlebnissen teilhaben lässt.
    Ich freue mich, wieder von Dir zu lesen.

    Viele Grüße aus Bayern
    Misty

    • Khai

      Namaste Misty,
      es freut mich sehr, dass Du meinen Blog verfolgst und es freut mich noch mehr, dass Du dich in Nepal engagieren möchtest! Vielen Dank auch für Deinen Kommentar. 🙂
      Mit meinen Eintrag ging es mir nicht darum zu sagen, dass alle Nepalesen zu spät kommen (steht auch nirgends geschrieben). Vielmehr sollte es diejenigen Menschen kritisch hinterfragen, die dieses dauerhafte Zuspätkommen als ein Synonym für die Ruhe und Gelassenheit der einheimischen Bevölkerung interpretieren, was es schlicht und einfach nicht ist.
      Was die Verallgemeinerung betrifft, so ist fast jeder beschreibende Text eine Verallgemeinerung der Realität. Zu schreiben, dass Nepalesen gastfreundlich seien, ist ebenfalls eine Aussage, die einer Verallgemeinerung zugrunde liegt. Auch in Nepal wird es nicht-gastfreundliche Menschen geben 😉 Die Verallgemeinerung darf niemals als Realitätszustand angesehen werden – sonst hätte ja jeder einzelne Nepalese befragt werden müssen. Sie ist eine Erleichterung komplexer Zusammenhänge, die sich am (gefühlt) prozentualen Anteil einer jeweiligen Tendenz orientiert 🙂

      Falls ich Dir irgendwie bei Deinen zukünftigen Projekten helfen kann, schreib mir einfach eine E-Mail. Vielleicht läuft man sich ja dann mal in Nepal über den Weg. Würd mich freuen 🙂

      Liebe Grüße von Kathmandu nach Bayern
      Khai

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