Solange ich Brot habe… | Eine kleine Weihnachtsgeschichte

Veröffentlicht in: Alltagsgeschichten | 2

Es war wieder einer dieser nasskalten Tage, an denen nur der Kalender wusste, dass der Dezember schon unlängst angebrochen war. Seit dem Morgen hatte bereits ein tief grauer Vorhang die Stadt fest umhüllt und den Beton unter ihm in einem Film von Regen bedeckt. Jetzt am späten Abend tanzten die Tropfen im Laternenlicht des Bahnhofs und zeichneten auf den Gleisen rhytmische Kreise, die genause so schnell verschwanden wie sie angekommen waren. Nothing is permanent, schoss es mir durch den Kopf.

Ein undankbarer Windstoß fegte den Regen über den Bahnsteig und jagte die abendliche Kälte durch meine Glieder. Schutz bot jetzt nur noch die Wärme im beheizten Zugabteil. Mund-und-Nasenbedeckung oder Frischluft? Der Schwall Regen, den ein weiterer Windstoß über den Bahnsteig peitsche, übernahm für mich die Entscheidung. Ab ins Trockene, obwohl die Abfahrt noch eine Zeit auf sich warten ließ.

Die Regionalbahn zwischen Frankfurt und Marburg, einst ein stündlich verkehrender Zug, der stark ausgelastet gewesen war, hatte nun aufgrund von Corona eine beachtliche Anzahl seiner Fahrgäste verloren. Zur Freude der jetzt anwesenden Fahrgäste, die dadurch problemlos ihren Nebenplatz eigens für Jacken, Taschen und Einkaufstüten reservieren konnten. Ein paar Minuten verharrte ich regungslos auf meinem Sitzplatz, wie ein großer Eisblock, der einfach nur versuchte aufzutauen. Eine Durchsage hallte durch den Zug. Die Abfahrt würde sich um eine weitere Viertelstunde verzögern, erklärte die krachzige Stimme emotionslos aus den Lautsprechern. Ein entnervtes Raunen ging durch das Abteil. Unterdessen wog ich ab, welche der drei Zugbeschäftigungen ich eher nachgehen sollte. Erstens könnte ich natürlich wie immer etwas lesen. Zweitens könnte ich melancholisch aus dem Fenster schauen, doch dafür war es jetzt draußen bereits zu dunkel. Oder drittens könnte ich mir Geschichten über das Leben der anderen Fahrgäste fantasieren. Ich spähte umher und fand eine Armee unterschiedlicher Zombies, die ihren Blick starr auf ihre kleinen Displays fixiert hatten. Ohne auch zu blinzeln, den Kopf leicht gesenkt, wurden ihre Gesichter von dem bläulichen Licht bestrahlt. Ein gruseliger Anblick, wenn man nur von Zombies umgeben ist.

Ich öffnete lieber mein Buch, um die Geschichte zweier ungleicher Weggefährten aus der Stadt der Diebe weiter zu verfolgen, die im erbarmungslosen russichen Winter während der deutschen Belagerung nach einem Dutzend Eiern suchten. Eine Frauenstimme katapultierte mich von Leningrad zurück in die Realität. „Guten Abend. Ich bin obdachlos. Haben Sie ein bisschen Kleingeld?“, vernahm ich aus dem hinteren Teil des Zuges. Eine Einzigartigkeit im Rhythmus ihrer Worte, ließ mich die Frau erkennen, noch ehe sie bei mir angelangt war. Gebetsmühlenartig sprach sie ihre Mitmenschen an. Ein Mantra, dass sie heute schon zum hundersten Mal vorgetragen haben musste. Wer weiß, in wie vielen Zügen sie schon über den Tag gewesen war. Die Stimme näherte sich schnell, was mir signalisierte, dass ihre Ausbeute in diesem Zug bislang nicht erfolgreich gewesen sein musste.

„Guten Abend. Ich bin obdachlos. Haben Sie ein bisschen Kleingeld?“, fragte die Frau nun den jungen Zombie in Anzug und Krawatte, der deutlich älter aussah, als er womöglich war. Die Frau stand mit dem Rücken zu mir. Ich beobachtete, wie der Anzug-Zombie seine Airpods aus dem Ohr nahm und zur Frau hinaufblickte, aber auch gleichzeitig auf sie herab. Bevor sie auch nur etwas sagen konnte, winkte der Zombie ab: „Ich habe kein Geld. Verschwinde!“. Während er wieder in seine Zombie-Welt eintauchte, drehte sich die Frau zu mir um.

„Ach, hallo! Sie sind es wieder. Haben Sie wieder etwas Kleingeld für mich?“, ich war erstaunt, dass sie mich wiedererkannte. Da ich leider kein Kleingeld bei mir trug, bot ich der Frau an, meinen Einkauf mit ihr zu teilen, sofern ihr dies ebenfalls zusagte. Die Frau nickte erfreut: „Das ist sehr nett. Die jungen Menschen sind immer so nett“. Dieses Kompliment nahm ich gerne an. Anders als der Anzug-Zombie sehe ich weitaus jünger aus, als ich in Wahrheit bin. Ich öffnete meine Tasche und gab der Frau etwas Obst und Brot. Sie bedankte sich und verschwand wieder in die Kälte, ohne den Rest des Zugabteils durchzugehen.

Der Zug rollte endlich los. Eine Männerstimme entzog mich wieder aus Leningrad. „Weißt du, die Bettlerin eben… die bettelt nur, weil es Menschen gibt, die ihr immer etwas geben“. Ich schaute zum Anzug-Zombie, der seine Airpods weiterhin in seinen Händen hielt, ohne auch nur Anstalten zu machen, sie wieder in seine Ohren zu stecken. Er wollte diskutieren. Ich überlegte kurz, wie groß meine Konfrontationslaune war. In der Hoffnung schnell weiterlesen zu können, erwiderte ich einfach: „Menschen betteln nicht, weil ich ihnen etwas gebe. Sie betteln, weil sie etwas wollen“. Der Anzug-Zombie ließ nicht locker: „Aber doch nur weil du ihnen etwas gibst!“. Ich ignorierte seinen Satz und widmete mich lieber meinem Buch, weil ich keinen Nerv hatte, ihm Kausalsätze grammtikalisch zu erklären.

„Was ich eigentlich damit sagen wollte, ist, dass sie weiterhin betteln, weil es klappt. Weil es erfolgreich ist. Im Grunde sind Menschen, die das unterstützen das wahre Problem. Es gibt ja Einrichtungen, die sich um Obdachlose kümmern“, Anzug-Zombie redete sich in einen Rausch, „Ja, diese Einrichtungen müsste man finanziell unterstützen, damit sie ordentlich arbeiten können. Ja! Ich würde niemals jemanden auf der Straße etwas geben, stattdessen nur den Organisationen etwas spenden. Das ist viel nachhaltiger!“. Provokant schlug ich mein Buch laut zu: „Und das tust du?“. Anzug-Zombie verneinte. Ich fragte ihn, was ihn befähigte, mir Ratschläge für etwas zu erteilen, das er selbst niemals getan hat. „Ich meine ja nur….“, stieß Anzug-Zombie kleinlaut hervor, „das Problem ist damit einfach nicht gelöst“. „Das Problem ist: Sie hat kein Geld und Hunger. Ich gebe ihr etwas zu essen. In meiner Welt ist das Problem für heute gelöst“. Bevor ich ihn zu Wort kommen ließ, fügte ich hinzu: „Das ist natürlich keine langfristige, keine nachhaltige Lösung. Aber Armut und Hunger zu bekämpfen, ist nicht meine Aufgabe, sondern die langfristige Aufgabe der Politik. Leider ist die Politik hierzulande, aber auch weltweit dazu nicht im Stande. Weil andere Interessen im Vordergrund stehen. Was ich aber tun kann, ist kurzfristig den Menschen zu helfen, die Hilfe sofort benötigen.“

Ich schlug mein Buch wieder auf, um zu signalisieren, dass ich keine Lust mehr auf die Diskussion hatte. Anzug-Zombie holte nun zu seinem finalen Schlag aus: „Aber was macht das denn überhaupt für einen Unterschied?! Wenn hier 100 Bettler im Zug sitzen, kannst du nie im Leben allen helfen. Du kannst nicht mehr Brot verteilen als du hast. Am Ende stehst du mit nichts da!“. Ich atmete tief ein und aus: „Rein hypothetisch. Wenn hier wirklich 100 Menschen im Zug sitzen würden, die auf Essen angewiesen sind, und ich der Einzige von ihnen bin, der ihnen helfen kann, wäre das eine noch traurigere Welt als Jetzt. Oder ich wäre ein König in dieser Welt. Dann frage ich mich aber, was ich in einem Zug mit Bettlern mache! Deine Frage ist also ziemlich weit von der Realität weg. Es ist absolut sinnlos sich darüber Gedanken zu machen. Und was macht das für einen Unternschied, wenn ich nicht allen helfen kann? Frag dazu einfach diejenigen, die ich helfen konnte. Für diese Menschen macht es sehr wohl einen Unterschied! Wenn jemand Hilfe braucht, und ich helfen kann, helfe ich. Solange ich selbst Brot habe, werde ich es auch teilen.“.

Ich bat Anzug-Zombie mich die restliche Fahrtzeit bitte weiterlesen zu lassen, was er nach ein paar murmelnden Sätzen tatsächlich respektierte. Eine Sekunde später tauchte ich wieder in die eiskalte Winternacht von Leningrad ein.


Frohe Weihnachten, Ihr Lieben 🙂
Hoffentlich kann ich Euch bald wieder mehr über Nepal schreiben…..


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Namasté! Schön, dass Du meinen Nepal Blog gefunden hast. Ich heiße Khai-Thai, ich bin in Deutschland geboren, meine Eltern stammen aus Vietnam, Frankfurt ist meine Heimat und Nepal mein Zuhause. Seit 2011 besuche ich das wundervolle Land für mehrere Monate im Jahr und engagiere mich für unsere Hilfsprojekte vor Ort. In diesem Nepal Blog schreibe ich über meine Eindrücke, Erfahrungen, Anekdoten und Projekte - Einfach mein-Nepal eben ;)

2 Antworten

  1. Harry peck

    Habe alle deine Beiträge gelesen…und ich bin immer fasziniert von deinen Berichten…..auch ich bin froh das es junge Menschen wie dich gibt…..wären wir alle so wie du ..wäre unser Leben und unser Zusammenleben..100% besser..bleib wie du bist …….harry

  2. Beate

    Lieber Khai Thai! Es ist schön das es noch gute Menschen gibt auf diesem Planeten. Du bist definitiv einer davon ❤️ Ich wünsche Dir frohe Weihnachten !

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