Es gibt Traditionen, die muss ich nicht verstehen. Vor allem nicht, wenn ich genervt und hungrig bin. Im genervten und hungrigen Zustand besteht das weitere Reizen meines Geduldfadens auf eigene Gefahr. Das mal nur so am Rande…
„Ihr müsst endlich Singen oder Tanzen!“, befielt uns die alte Frau, die am höchsten Punkt zwischen den Dörfern Chaurikot und Jhyakot lebt, nun schon zum x-ten Mal. Ich blicke skeptisch auf die drei kleinen Häuschen, deren Bewohner womöglich alle bereits auf die Felder zum Arbeiten gegangen sind, oder sich vor der alten Frau in Sicherheit gebracht haben.
Wir sind schon wieder extrem spät dran. Und das alles nur, weil wir im vorherigen Dorf zu viel Zeit verbracht haben. Gerade als wir mit dem Verteilen der Schultaschen fertig waren, lud uns der Schuldirektor zu sich nach Hause zum Mittagessen ein. Wir lehnten zunächst dankend ab, weil wir noch zum nächsten Dorf, das drei Stunden entfernt lag, laufen mussten. Schließlich warteten dort etwa 400 Schulkinder auf uns. Der Schuldirektor bestand aber darauf, habe seine Frau doch schon extra für uns gekocht. Als wir in seinem Haus ankamen, hatte seine Frau gerade erst zu kochen begonnen. Nichts war vorbereitet gewesen, sodass ich meinen Mitreisenden vorschlug, dass wir uns direkt auf den Weg ins nächste Dorf machen sollten. Meine nepalesischen Freunde brachten es aber nichts übers Herz dem Schuldirektor und seiner Frau eine Abfuhr zu erteilen. So warteten wir 1,5 Stunden bis das Essen zubereitet gewesen war. Was für eine verschwendete Zeit!
Und jetzt verschwenden wir schon wieder wertvolle Zeit am Gipfel bei der alten Frau. „Wir müssen weiter!“, sage ich genervt zu meinen Freunden. Es ist bereits nach 14h und wir haben noch einen langen Weg von mindestens 1,5 Stunden vor uns. Verabredet sind wir an der nächsten Schule um 15h. Das schaffen wir nie. Mich nervt, ständiges zu spät kommen.
„Erst müssen wir noch Singen oder Tanzen…“, entgegnet mir einer meiner Freunde, dem anscheinend die Höhenluft nicht gut bekommen hat. Ich frage, ob er ernsthaft noch bei Sinnen ist. Es gehe darum, die Berggeister auf unsere Seite zu bringen, erklärt er mir. „Wenn wir sie nicht mit Gesang und Tanz glücklich stimmen, sorgen sie für Unheil für uns“. Ich fluche innerlich und rolle mit den Augen. Da ich in diesem Moment nicht vom Blitz getroffen wurde, denke ich mir, dass diese komischen Berggeister doch nicht so mächtig sind, wie alle fürchten. Ich fordere meine Freunde zum Gehen auf, die aber alle lieber noch diskutieren, ob gesungen oder getanzt werden soll.
„Hallo?! Seid ihr völlig bescheuert?! Wir sind sau spät dran! Und ihr diskutiert, wer, was, wie singt oder tanzt. Hier ist kein Mensch bis auf diese verwirrte alte Frau da! Singt oder tanzt oder lasst es sein. Wir müssen echt weiter!“, bricht es aus mir aus. „Khai, du verbreitest negative Stimmung…“, bekomme ich als Antwort zu hören. Ich zeige auf die komische Holzfigur, die über den Gipfel ragt und Negatives fernhalten soll: „Dann macht das Ding da aber keine gute Arbeit…“
Ich werfe mir meinen Rucksack um und stampfe los, während ich im Hintergrund die Melodie einer Flöte wahrnehme, Gesang und lautes Gelächter höre. Ich hasse es, wenn man andere warten lässt. Ich hasse dieses Nepali-Time, das von Touristen romantisch als Entspanntheit der Nepalesen aufgefasst wird. Ich bin so genervt, dass ich den Weg ohne meine Freunde fortsetze. Ich laufe in einem Höllentempo und komme tatsächlich um kurz nach 15h an der Schule in Jhyakot an. Dort warte ich auf die anderen… Und wenn ich weiterhin am Warten bin, singen oder tanzen sie noch immer.
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