Die Nacht ist sternenklar, als ich mich von der gut beleuchteten Hauptstraße in die Dunkelheit der Seitengasse begebe. Die Rollläden der kleinen Geschäfte sind bereits zugezogen. Kein Licht scheint aus den Fenstern der Häuser hinaus. Ein Indiz, dass unser Viertel vom Load Shedding (Abschalten des Stroms nach einem Stromplan) betroffen ist. Das Leben in diesen kleinen Gassen hat sich schon längst in die eigenen vier Wände verabschiedet. Es ist erst 21.50h und die Stille ist bereits bedrückend.
Der Lichtstrahl meiner Taschenlampe leitet mir den Weg zurück zu meiner Unterkunft. Ich begegne keiner Menschenseele und genieße unter einem wundervollen Sternenhimmel die Friedlichkeit des Alleinseins. Begleitet von knurrenden Straßenhunden erreiche ich wohlbehütet das Haus. Die Eingangstür ist allerdings von innen verriegelt. Ich rufe den Hausbesitzer im dritten Obergeschoss an und bitte ihn, mich hinein zu lassen. Ich warte…
Ein lauter Knall weckt urplötzlich die stille Nacht auf. Ein Knall, der mich sofort in die Vergangenheit katapultiert. Das gleiche Geräusch hatte ich damals – im April letzten Jahres – ebenfalls wahrgenommen, kurz bevor die Erde massiv zu beben begann. Instinktiv richte ich meinen Blick zu den verworrenen Stromleitungen. Sie schwanken bereits. Mir ist sofort klar: Erdbeben – schon wieder! Ich zähle die Sekunden.
EINS – Die Vibration hat den massiven Strommast aus Beton erreicht. Ich sehe, wie er zu wanken beginnt.
ZWEI – Ein heftiger Ruck bringt auch mich ins Schwanken. Ich stelle mich sofort direkt an den stabilen Pfeiler unseres Hauses.
DREI – Das Beben wird stärker. Die Straßenhunde werden unruhig und rennen bellend durch die kleinen Gassen.
VIER – Das Beben dauert noch an und wird nicht schwächer. Das Adrenalin schießt durch meinen Körper und fordert mich auf, ins Freie zu rennen. Doch ich entscheide mich dagegen. Das Freie ist viel zu weit weg. Die Gefahr von herabstürzenden Trümmern getroffen zu werden, ist viel zu hoch – vor allem, wenn das Beben noch andauert…
FÜNF – Türen und Tore werden aufgerissen. Menschen rennen schreiend aus den Häusern und stellen sich in die enge Gasse zwischen den schwankenden Gebäuden. Ich sehe die Angst in ihren Gesichtern. Es sind dieselben Ängste vom April vergangenen Jahres.
SECHS – Das Beben lässt langsam nach. Noch immer stehe ich am Pfeiler und beobachte die Lage.
SIEBEN – Nur noch ganz minimal ist das Beben zu spüren. Das Schwanken der Stromkabel lässt nach. Das gröbste ist erst einmal überstanden.
Das Beben war viel stärker als die Nachbeben unmittelbar nach dem großen Beben im April. Wir schätzten sofort die Stärke auf knapp 6,0 auf der Richterskala ein. Später sollte sich herausstellen, dass wir nicht ganz so falsch lagen. Laut einstimmigen Nachrichtenberichten erreichte das Beben eine Stärke von 5,5.
Eine gute Viertelstunde bangen die Menschen angespannt auf den Straßen. Sie spenden sich gegenseitig Trost, telefonieren oder beten. Auch ich habe mein Telefon bereits gezückt und versuche meine Freunde in Thamel zu erreichen. Die alten Gebäude und die dichte Bebauung stellen eine erhöhte Gefahr dar. Doch die folgende Nacht bleibt ruhig. Keine weiteren Beben – fürs Erste…
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