Nepal – Ein Jahr nach dem Erdbeben

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Urplötzlich riss es mich aus meinem Tagtraum. Mit einem heftigen Ruck wurde ich ohne Vorwarnung nach vorne geschleudert. Ehe ich auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, hatten meine Arme bereits reflexartig ihre Arbeit übernommen. Meine flachen Handflächen knallten auf das Armaturenbrett, deren Aufschlag in dem kurzen Aufschrei, der aus meinem Rücken gekommen war, lautlos unterging. Irgendwie schafften es meine Arme, sich der Aufgabe des wie üblich abwesenden schwarzen Bandes – in Deutschland nennt man diese futuristische mechanische Konstruktion übrigens „Sicherheitsgurt“ – zu bemächtigen und den Aufprall zu verhindern. Dennoch durchströmte ein grelles, lautes Pfeifen meinen Körper und brachte meinen Kopf beinahe zum Platzen. Mit meinen Händen noch immer auf dem Armaturenbrett blickte ich nach rechts zum Fahrer, der völlig steif mit komplett ausgestreckten Armen das Lenkrad umgriff und sich fest in seinen Sitz drückte. Seine aufgerissenen Augen starrten durch die Windschutzscheibe unseres Jeeps nach draußen. Ich griff vorsichtig an den linken Arm des Fahrers. Er würdigte mir keines Blickes. Behutsam drückte ich seinen Arm nach unten, dessen Daumen nun von der Hupe glitt. Das schreckliche Pfeifen verstummte.

„Everyone OK?“, durchbrach ich die wohltuende Stille und wendete mich zur Rückbank, um einen Blick auf meine drei Begleiterinnen und Begleiter werfen zu können. Niemand war bei der Vollbremsung verletzt worden. Der Schock steckte noch in ihren Gesichtern. Dennoch waren sie schon wieder dabei gewesen, das Chaos in den beiden Sitzreihen hinter mir ohne Jammern zu sortieren. Vollbepackte Kartons hatten der Fliehkraft nicht widerstanden, sodass sie kippten und den Boden des Jeeps in ein Meer aus Bleistiften und Kugelschreibern verwandelten. Unzählige Hefte lösten sich von den Stapeln und lagen nun quer auf den Sitzreihen verteilt. Es war still im Jeep geworden. Es wurde kaum gesprochen. Jeder kannte seine Aufgabe. Jeder kannte das übergeordnete Ziel. Mit jeder Minute wich der Schock und mit ihm auch das durch die Vollbremsung verursachte Chaos. Selbst der Fahrer hatte seine Starre schnell überwunden und war bereits aus dem Wagen gestiegen, um die Ladung auf dem Dach des Jeeps zu kontrollieren. Alle Schultaschen waren noch da. Die Fahrt konnte fortgesetzt werden. Wir umfuhren den großen Felsbrocken, der sich hinter einer Kurve vom Hang gelöst hatte und uns um Haaresbreite zum Verhängnis geworden wäre. Das Tempo wurde nun gedrosselt. Wir wussten, dass wir glimpflich davon gekommen waren – so wie auch beim Erdbeben vor einem Jahr.

Genau ein Jahr ist seit dem verheerenden Erdbeben am 25. April 2015 vergangen. Ein Jahr, in dem das kleine Land am Himalaya kaum zur Ruhe kam. Politische Unruhen, ökonomische Blockaden und die bis heute andauernden Nachbeben erschweren den Rückgang zur Normalität. Ich habe das Gefühl, dass sich Nepal verändert hat. Es ist nicht unbedingt schlechter oder besser als damals – einfach nur anders. Vielleicht habe ich mich selbst auch nur verändert. Viel wahrscheinlicher ist es allerdings, dass das Erdbeben bei allen Menschen seine Spuren hinterlassen hat. Ich habe das Gefühl, dass die Leichtigkeit abhanden gekommen ist. Versteht mich nicht falsch. Die Menschen haben das Lachen und ihre Freude nicht verloren. Doch irgendwie meine ich, dass ich bei all ihrem Glück immer auch einen Anflug an Melancholie in ihren Augen erkenne. Ein kurzer Blick, der die Last des vergangenen Jahres und die Angst vor einer womöglich noch schlimmeren Naturkatastrophe in der Zukunft widerspiegelt. Vielleicht erkenne ich es aber auch nur, weil ich mich in ihren Augen wiederfinde. Weil ich diese Melancholie zurzeit selbst in mir trage. Die verlorene Unbekümmertheit der Nepalesen, die fast alles durch das Erdbeben verloren hatten, resultierte nicht wie vermutet in Hoffnungslosigkeit oder Resignation. Ganz im Gegenteil. Tapfer, willensstark und zielbewusst hat sich die nepalesische Bevölkerung den beschwerlichen Weg durch das leidvolle vergangene Jahr gebannt.

Die anfängliche Schockstarre – wie bei unserem Fahrer – war nur von kurzer Dauer gewesen. Schnell haben sich die Menschen wieder aufgerappelt – trotz des Chaos, trotz der schmerzlichen Verluste, trotz des empfunden Leids. Oder gerade deswegen. Mit viel Mitgefühl und noch mehr Menschlichkeit. Die Hilfsbereitschaft der Nepalesen ist ungebrochen. Jeder weiß um seine Aufgabe. Jeder übernimmt Verantwortung. Jeder packt an. Ohne zu jammern. Ohne nach Mitleid zu suchen. Es wird nicht viel geredet. Alle kennen das gemeinsame Ziel – so wie in den Momenten nach unserem Beinahe-Unglück im Jeep.

Ein Jahr nach dem Erdbeben hat sich vor allem in der Hauptstadt schon viel getan. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Kathmandu sind zum Teil schon wieder zugänglich oder befinden sich im Wiederaufbau. Der Trubel in den Straßen ist wieder zum Leben erwacht. Der scheinbar unkoordinierte Verkehr kommt nun nach Ende der ökonomischen Blockade wieder in höchste Gänge. Dennoch wird man in den Straßen von Kathmandu stets an das schwere Erdbeben erinnert. Auch einige Gebäude in der Hauptstadt haben massive Risse davon getragen oder sind zum Teil eingestürzt. Ihre Schäden erinnern täglich an die Naturgewalt. An größeren, freien Flächen rund um die Hauptstadt hat die nepalesische Regierung – mit ordentlicher Unterstützung internationaler Organisationen – Hilfslager für die Erdbebenopfer in den ländlichen Regionen geschaffen, in denen tausende Erwachsene und Kinder nun untergekommen sind. In diesen „Zeltstädten“ harren die Menschen noch heute aus. Denn ihre Heimat ist kaum noch bewohnbar.

In den entlegenen Regionen rund um die Epizentren der unzähligen, heftigen Nachbeben ist die Lage noch immer prekär. Die meisten Menschen dort leben seit der Katastrophe in provisorischen Unterkünften, die aus Wellblechen, Zelten oder Planen bestehen. Schutt und Geröll liegen selbst ein Jahr nach dem Unglück überall noch herum.

Als wir mit unserem Jeep in den Kern vom Sindhupalchowk-Distrikt fuhren, um in einem Dorf Schultaschen für Schulkinder zu verteilen, konnte ich das Ausmaß der Zerstörung erkennen, als sei das Erdbeben erst vor wenigen Tagen passiert. In allen Dörfern, in denen wir durchgefahren sind, reihten sich Wellblechhäuser und Zelte direkt neben den eingestürzten Gebäuden auf. Die Menschen wollen oder können ihre Dörfer nicht verlassen. Es ist ihr Zuhause gewesen und sie brauchen unbedingt Hilfe, damit es wieder ihr Zuhause in Zukunft werden kann. Von den groß aufgefahrenen und medial begleiteten Hilfsprogrammen der bekannten Hilfsorganisationen sind in den Dörfern nur noch die noch größeren Zeltplanen übrig geblieben, die in diesem Krisengebiet völlig surreal wie Werbebanner wirken, auf denen die Hilfsorganisationen ihre weltweit bekannten Logos und Slogans werbeträchtig positionieren.

Die Menschen in den entlegenen Regionen scheinen ihrem Schicksal überlassen worden zu sein. Die unmittelbare akute Nothilfe ist bereits seit Monaten zum Erliegen gekommen. Auch in den internationalen Medien spielt das Erdbeben keine Rolle mehr. Doch die nepalesische Bevölkerung weiß sich selbst zu helfen. Jeder weiß um seine Aufgabe. Jeder übernimmt Verantwortung. Jeder packt an. Ohne zu jammern. Ohne nach Mitleid zu suchen. Es wird nicht viel geredet. Alle kennen das gemeinsame Ziel. Gemeinsam mit Freunden in aller Welt geschieht jeden Tag ein wenig mehr.

Gemeinsam wird Nepal wieder aufgebaut – jeden Tag ein Stückchen mehr.

Nepal will rise again!

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Namasté! Schön, dass Du meinen Nepal Blog gefunden hast. Ich heiße Khai-Thai, ich bin in Deutschland geboren, meine Eltern stammen aus Vietnam, Frankfurt ist meine Heimat und Nepal mein Zuhause. Seit 2011 besuche ich das wundervolle Land für mehrere Monate im Jahr und engagiere mich für unsere Hilfsprojekte vor Ort. In diesem Nepal Blog schreibe ich über meine Eindrücke, Erfahrungen, Anekdoten und Projekte - Einfach mein-Nepal eben ;)

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